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So handelten die ersten Christen

So handelten die ersten Christen. Sie hatten aus Gründen ihrer übernatürlichen Berufung keine sozialen oder menschlichen Programme zu erfüllen; aber sie waren von einem Geist, von einer Lebens- und Weltauffassung durchdrungen, die in der Gesellschaft, in der sie sich bewegten, nicht ohne Folgen bleiben konnte.

Durch ein dem unseren ähnliches Apostolat gewannen sie Proselyten(8), und schon während seiner Gefangenschaft sandte Paulus den Kirchen die Grüße der Christen, die im Haus des Kaisers wohnten.42 Berührt euch nicht dieser zauberhafte Brief, den der Apostel an Philemon richtet und der ein lebendiger Beweis dafür ist, wie der Sauerteig Christi – ohne dass dies direkt beabsichtigt war –, durch den Einfluss der Liebe, den Strukturen der herrschenden Gesellschaft einen neuen Sinn verliehen hat?43

Von gestern erst sind wir, und doch haben wir schon den Erdkreis und all das Eurige erfüllt, die Städte, Inseln, Kastelle, Munizipalstädte, Ratsversammlungen, sogar die Heerlager, Zünfte, Dekurien, den Palast, den Senat und das Forum; wir haben euch nur die Tempel gelassen, schrieb – wenig mehr als ein Jahrhundert später – Tertullian44.

(8) „Proselyten“: vom griechischen „prosélytos“. Im Neuen Testament wird ein zum Judentum bekehrter Heide „Proselyt“ genannt. Das Wort hatte eminent positive Bedeutung. Jesus wirft den Juden nicht vor, dass sie „Proselyten machen“, sondern dass sie diese nachher durch ihr sündhaftes Verhalten verderben (vgl. Mt 23,15). In der Väterzeit wird der „Proselytismus“ dann auch für die Gewinnung von Menschen für den christlichen Glauben und somit für den Missionsauftrag der Kirche verwendet. Christus nennt die Apostel bezeichnenderweise „Menschenfischer“ (vgl. Lk 5,10; Mt 4,19). Der Terminus „Proselytismus“ wurde dann jahrhundertelang in der geistlichen Literatur ohne Bedenken nicht nur für die Gewinnung von neuen Gläubigen, sondern auch für die Weckung von Priester- und Ordensberufungen gebraucht.

Im Deutschen und in einigen anderen Sprachen war das Wort unüblich bzw. wurde höchstens abschätzig verwendet („Proselytenmacherei“). In den letzten Jahrzehnten hat sich diese negative Sinnbestimmung immer mehr durchgesetzt und sogar in eine Reihe lehramtlicher Dokumente Eingang gefunden.

Der heilige Josefmaria spricht völlig unbefangen von Proselytismus, weil er diese negative Konnotation nicht kennt, die sich herausgebildet hat, weil man den Sekten vorwarf, dass sie manchmal, um Anhänger zu gewinnen, vor Täuschung und Zwang nicht zurückscheuen. Dem heiligen Josefmaria – der eine seiner ersten Instruktionen gerade dem Proselytismus widmet! – liegt nichts ferner, als eine Seele bei ihrer Entscheidung für Gott unter Druck zu setzen. Für ihn ist das Bemühen, andere für das Ideal der Heiligkeit zu begeistern – konkret, Mitglieder für das Opus Dei zu gewinnen –, nichts anderes als der Appell an die Großzügigkeit eines Menschen, in völliger Freiheit einer göttlichen Berufung zu entsprechen. Er sieht im Proselytismus ein „grundlegendes Merkmal der Liebe zu Gott und den Menschen“. (Anm. d. Übers.)

Anmerkungen
42

Phil 4,22.

43

Vgl. Phlm 8-12; Eph 6,5f; Kol 3,22-25; 1 Tim 6,1-2; 1 Petr 2,18f.

44

Tertullian, Apologetikum, 37.

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