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Natürliche Tugenden

Eine laizistische Denkungsart und manche Auffassungen, die wir pietistisch nennen könnten, haben beide eine Sicht vom Christen, nach der dieser nicht voll und ganz Mensch ist. Der Laizist sieht die menschlichen Werte durch die Forderungen des Evangeliums erstickt, der Pietist wähnt die Reinheit des Glaubens durch die gefallene Natur gefährdet. Sie kommen zum gleichen Ergebnis: beide verkennen die volle Realität der Menschwerdung Christi und übersehen, daß das Wort Fleisch geworden ist - Mensch geworden - und unter uns gewohnt hat (Joh 1,14).

Meine Erfahrung als Mensch, als Christ und als Priester lehrt mich etwas ganz anderes: Mag ein Herz auch noch so tief in die Sünde verstrickt sein, immer glimmt in ihm, wie unter der Asche, ein Funke der Güte. Und immer, wenn ich an ein solches Herz geklopft habe, unter vier Augen und mit dem Wort Christi, hat es geantwortet.

Es gibt in dieser Welt viele Menschen, die keinen Umgang mit Gott pflegen - vielleicht, weil sie niemals Gelegenheit hatten, das Wort Gottes zu hören, oder es vergessen haben -, die aber, menschlich gesehen, aufrichtig, loyal, mitfühlend, anständig sind. Ich bin davon überzeugt, daß ein Mensch mit solchen Voraussetzungen nahe daran ist, sich Gott zu öffnen, denn die natürlichen Tugenden bilden das Fundament der übernatürlichen.

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