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Es ist sehr schwer, diesen Menschen, denen die Verzerrung gleichsam zur zweiten Natur geworden ist, einsichtig zu machen, daß es menschlicher und wahrheitsgemäßer ist, gut vom Nächsten zu denken. Vom heiligen Augustinus stammt der Ratschlag: Bemüht euch, die Tugenden zu erwerben, die nach eurer Meinung euren Brüdern fehlen, und so werdet ihr ihre Fehler nicht mehr sehen, da ihr sie selbst nicht habt (Augustinus, Enarrationes in psalmos, 30, 2, 7 [PL 36, 243]). Einige meinen, dies sei naiv, ihre eigene Einstellung sei realistischer, vernünftiger.

Solche erheben das Vorurteil zur Urteilsnorm; und so beleidigen sie von vornherein jeden, bevor sie sich überhaupt auf Vernunftsgründe einlassen. Erst dann, sachlich und wohlwollend, werden sie vielleicht dem Beleidigten die Möglichkeit zugestehen, sich zu verteidigen: und dies gegen jede Moral und alles Recht, denn statt selbst die Beweislast für die Unterstellung zu übernehmen, gewähren sie dem Unschuldigen das Privileg, seine Unschuld zu beweisen.

Ich will euch nicht verhehlen - es wäre unaufrichtig -, daß hinter den vorangegangenen Überlegungen mehr steht als lediglich eine verkürzte Nachlese aus moraltheologischen und juristischen Nachschlagewerken. Sie entstammen vielmehr der Erfahrung, die nicht wenige am eigenen Leib gemacht haben; sie und viele andere sind oft und jahrelang Zielscheibe für üble Nachrede, Ehrabschneidung und Verleumdungen gewesen. Die Gnade Gottes und ein nicht nachtragendes Wesen haben bewirkt, daß dies alles keine Spur der Verbitterung hinterlassen hat. Mihi pro minimo est, ut a vobis iudicer (1 Kor 4,3), mir liegt wenig daran, von euch beurteilt zu werden, könnten sie mit dem heiligen Paulus sagen. Und manchmal haben sie vielleicht - mit einem Ausdruck der Umgangssprache - hinzugefügt: es läßt mich kalt. Denn so ist es.

Anderseits aber betrübt mich doch der Gedanke, daß derjenige, der zu Unrecht den guten Ruf eines anderen antastet, sich selbst damit zugrunde richtet. Und es schmerzt mich auch wegen der vielen Menschen, die angesichts des willkürlichen Anklagegeschreis entsetzt und ratlos weder ein noch aus wissen und meinen, all dies sei ein Alptraum.

Vor wenigen Tagen hörten wir in der Lesung der heiligen Messe die Geschichte der Susanna, jener keuschen Frau, die von zwei lüsternen Greisen fälschlich der Unzucht beschuldigt wurde. Susanna brach in Weinen aus und antwortete ihren Anklägern: "Von allen Seiten bin ich bedrängt; denn wenn ich dieses tue, ist mir der Tod gewiß; tue ich es aber nicht, so kann ich euren Händen nicht entrinnen" (Dtn 13,22). Wie oft bringt die Durchtriebenheit der Neidischen oder Intriganten viele unschuldige Menschen in diese Lage, die dann vor der Alternative stehen, entweder den Herrn zu beleidigen oder die eigene Ehre geschmäht zu sehen. Die einzige ehrenhafte und würdige Lösung ist zugleich äußerst schmerzlich, und sie müssen sich entscheiden: Lieber will ich unschuldig in eure Hände fallen, als wider den Herrn sündigen (Dtn 13,23).

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