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Christi Leben betrachten

Diese Liebe Christi ist es, um deren Verwirklichung jeder von uns in seinem eigenen Leben ringen muß. Aber um ipse Christus zu sein, müssen wir uns in Ihm sehen. Es genügt nicht, ein allgemeines Bild von Christus zu haben, wir müssen vielmehr aus seiner Haltung und seinen Reaktionen lernen. Und vor allem müssen wir seinen Erdenwandel betrachten und seinen Spuren nachgehen, um Kraft, Licht, Gelassenheit und Frieden daraus zu schöpfen.

Wenn man einen Menschen liebt, möchte man alles, selbst die kleinsten Details über ihn wissen, um sich mit ihm identifizieren zu können. Darum müssen wir die Lebensgeschichte Jesu betrachten, von der Geburt in einer Krippe bis zu seinem Tod und seiner Auferstehung. In den ersten Jahren meiner priesterlichen Arbeit verschenkte ich oft die Heilige Schrift oder Bücher, die das Leben Christi nacherzählen. Denn wir müssen sein Leben gut kennen, es ganz im Kopf und im Herzen tragen, damit wir es in jedem Augenblick ohne Hilfe eines Buches mit geschlossenen Augen vor unserem inneren Blick wie einen Film vorbeiziehen lassen können. Die Worte und Taten des Herrn werden uns auf diese Weise in den verschiedenen Situationen unseres Lebens begleiten.

So werden wir sein Leben mitleben. Denn es geht nicht nur darum, an Jesus zu denken, uns diese oder jene Szene zu vergegenwärtigen. Wir müssen uns vielmehr in sie hineinversetzen, und als Teilnehmer des Geschehens werden wir dann Christus so nahe folgen wie Maria, seine Mutter, wie die ersten Zwölf, wie die frommen Frauen und die Menge, die Ihn umdrängte. Wenn wir so handeln und Christus keine Hindernisse in den Weg legen, werden uns seine Worte bis ins Innerste durchdringen und umwandeln. Denn Gottes Wort ist lebendig, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert. Es dringt durch, bis es Seele und Geist, Mark und Bein voneinander scheidet. Es ist ein Richter über die Gedanken und Gesinnungen des Herzens (Hebr 4,12).

Wenn wir die übrigen Menschen zum Herrn führen wollen, müssen wir das Evangelium nehmen und die Liebe Christi betrachten. Wir könnten uns etwa die entscheidenden Szenen seines Leidens vor Augen führen, denn, wie Er selbst sagte: Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde (Joh 15,13). Aber wir können auch sein übriges Leben, seinen täglichen Umgang mit jenen betrachten, die Ihm begegneten.

Um die Heilsbotschaft zu den Menschen gelangen zu lassen und ihnen die Liebe Gottes zu offenbaren, hat Christus - vollkommener Gott und vollkommener Mensch - menschlich und göttlich zugleich gehandelt. Gott kommt den Menschen entgegen. Er nimmt unsere Natur ohne Vorbehalte an, mit Ausnahme der Sünde.

Ich empfinde eine tiefe Freude bei dem Gedanken, daß Christus voll und ganz Mensch sein wollte, aus Fleisch wie wir. Mich bewegt das Wunder, daß ein Gott mit dem Herzen eines Menschen liebt.

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