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Verschiedenartigste Umstände und nicht zuletzt die Ermahnungen und Dokumente des kirchlichen Lehramtes haben eine tiefgreifende Unruhe in Bezug auf die sozialen Probleme ausgelöst. Man spricht viel vom christlichen Zeugnis in Bezug auf die Tugend der Armut. Wie kann eine Hausfrau, die doch für das Wohlergehen der Familie sorgen muß, diese Armut leben?

Armen wird die Frohe Botschaft verkündet (Mt 11,5). Das ist nach der Heiligen Schrift gerade eines der Zeichen, das die Ankunft des Reiches Gottes ankündigt. Wer die Tugend der Armut nicht liebt und nicht lebt, hat den Geist Christi nicht. Das gilt für alle: für den Einsiedler, der sich in die Wüste zurückzieht, ebenso wie für den gewöhnlichen Christen, der mitten in der Gesellschaft lebt; für denjenigen, dem die irdischen Güter zur Verfügung stehen, wie für den, dem viele dieser Güter fehlen.

Ich möchte ein wenig länger bei diesem Thema verweilen, denn heute wird die Botschaft der Armut nicht immer so verkündigt, daß sie die wirklichen Probleme des Lebens trifft. Zweifellos mit gutem Willen, aber ohne ganz die Zeichen der Zeit begriffen zu haben, predigen manche eine Armut, die Frucht theoretischer Überlegungen ist und sich in spektakulären äußeren Zeichen kundtut, gleichzeitig aber innerlich und manchmal auch äußerlich große Unzulänglichkeiten aufweist.

In Anlehnung an das Wort des Propheten Isaias Discite benefacere (Is 1,17) pflege ich zu sagen, daß man lernen muß, die Tugenden zu leben, und das gilt vielleicht ganz besonders für die Armut. Sie will gelernt sein, damit sie nicht ein bloßes Ideal bleibt, über das man zwar viel schreibt, das aber niemand ernsthaft verwirklicht. Es gilt, sichtbar zu machen, daß die Armut eine Aufforderung des Herrn an alle Christen ist und daher ein konkreter Ruf, der das Leben der Menschen prägen muß.

Armut heißt nicht Elend und noch weniger Schmutz. Zunächst weil das, was den Christen zum Christen macht, nicht so sehr die äußeren Umstände seines Lebens sind, als vielmehr die innere Haltung. Aber nicht nur deshalb; ein weiterer wichtiger Grund besteht darin, daß Armut nicht einfach mit Entsagung gleichgesetzt werden kann; und diese Erkenntnis ist für ein rechtes Verständnis der christlichen Berufung des Laien überhaupt von ausschlaggebender Bedeutung. Ohne Zweifel kann das christliche Zeugnis der Armut unter bestimmten Umständen darin bestehen, daß ein Christ alles verläßt, um so der Gesellschaft, die nichts anderes als materiellen Wohlstand kennt, einen Spiegel vorzuhalten und mit einer aufrüttelnden Geste zu verkünden, daß nichts Wert hat, wenn man es Gott vorzieht. Aber erwartet die Kirche heute wirklich ganz allgemein dieses Zeugnis? Ist es nicht so, daß sie auch ein ausdrückliches Zeugnis von Liebe zur Welt und der Solidarität mit allen Menschen verlangt?

Wer über die christliche Armut nachdenkt, hat nicht selten als wesentlichen Anhaltspunkt das Leben der Ordensleute vor Augen, denen es eigen ist, immer und allerorts ein öffentliches, offizielles Zeugnis abzulegen. Dabei läuft man jedoch Gefahr, nicht wahrzunehmen, daß das christliche Zeugnis des Laien einen eigenständigen, spezifischen Charakter besitzt, da es ganz von innen her und mit der Schlichtheit des Alltäglichen gelebt werden muß.

Der gewöhnliche Christ muß in seinem Leben zwei Forderungen miteinander in Einklang bringen, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen: Einmal eine wirkliche Armut, die in handfesten Dingen spürbar und greifbar gelebt wird, die ein Bekenntnis des Glaubens an Gott ist und ein Zeichen dafür, daß das Herz sich nicht mit den Geschöpfen zufrieden gibt, sondern daß es den Schöpfer sucht, um sich mit seiner Liebe zu füllen und diese Liebe dann an die Mitmenschen weiterzugeben. Und andererseits die Forderung, sich nicht von seinen Mitmenschen abzusondern, vielmehr an ihrem Leben, ihrer Freude und ihrer Arbeit teilzunehmen, die Welt und alles Gute in ihr zu lieben und sich aller irdischen Dinge zu bedienen, um die Probleme des menschlichen Lebens zu lösen und die geistigen und materiellen Voraussetzungen zu schaffen, damit Personen und Gemeinschaften sich frei entfalten können.

Die Synthese zwischen diesen beiden Anforderungen zu finden ist zum guten Teil eine persönliche Aufgabe. Es ist eine Frage des inneren Lebens, das heißt der Fähigkeit, in jedem Augenblick und in jeder Situation auf das hinzuhorchen, was Gott von uns will. Ich möchte deshalb keine festen Richtlinien angeben, sondern nur einige allgemeine Anhaltspunkte, die besonders für die Hausfrau und Mutter gelten.

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