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Ich könnte nicht sagen, welche unter den natürlichen Tugenden die wichtigste ist, denn das hängt davon ab, unter welchem Gesichtspunkt wir sie betrachten; außerdem, ist diese Frage überflüssig, weil es sich nicht darum handelt, nur eine Tugend oder allenfalls einige Tugenden zu üben: notwendig ist vielmehr, daß wir darum kämpfen, sie alle zu erwerben und zu üben. Jede einzelne Tugend hängt mit allen anderen zusammen; so macht uns etwa das Streben nach Aufrichtigkeit auch gerecht, froh, klug und gelassen.

Manche Erörterungen, die von einer Unterscheidung zwischen den persönlichen und den sozialen Tugenden ausgehen, überzeugen mich ebenfalls nicht ganz. Keine Tugend begünstigt Egoismus, jede gereicht notwendigerweise zum Wohl des einzelnen wie der Mitmenschen. Da wir alle Menschen und Kinder Gottes sind, dürfen wir unser Leben nicht bloß als das fleißige Arbeiten an einem brillianten Curriculum, einer glänzenden Karriere betrachten. Wir müssen uns alle solidarisch fühlen - ja, wir sind alle auf der Ebene der Gnade durch das übernatürliche Band der Gemeinschaft der Heiligen miteinander verbunden.

Gleichzeitig ist zu bedenken, daß Entscheidung und Verantwortung in den Bereich der persönlichen Freiheit des einzelnen gehören; und deshalb sind die Tugenden auch etwas radikal Personales: sie sind Tugenden der Person. Und doch kämpft keiner diesen Kampf der Liebe für sich allein, ist keiner ein vom Gedicht losgelöster Vers, wie ich zu sagen pflege; wir helfen oder wir schaden einander, denn wir sind alle Glieder einer Kette. Bittet jetzt mit mir Gott, unseren Herrn, Er möge diese Kette fest in seinem Herzen verankern, bis der Tag kommt, da wir Ihn für immer von Angesicht zu Angesicht schauen werden.

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