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Herr, warum nennst Du dieses Gebot neu? Haben wir nicht soeben gehört, daß die Liebe zum Nächsten schon im Alten Bund geboten war? Und außerdem - ihr wißt es - hat Jesus zu Beginn seines öffentlichen Wirkens mit göttlicher Großherzigkeit diese Forderung erweitert: Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen und verleumden (Mt 5,43-44).

Herr, gestatte also, daß wir Dich nochmals fragen: Warum nennst Du dieses Gebot auch jetzt noch neu? In jener Nacht, wenige Stunden vor Deinem Opfertod am Kreuz, während des herzlichen Gespräches mit denen, die Dich trotz ihrer persönlichen Schwäche und ihrer Armseligkeit - die ja auch uns so vertraut sind - nach Jerusalem begleitet hatten, hast Du uns ein unerwartetes Maß der Liebe geoffenbart: Wie ich euch geliebt habe. Sie werden Dich wohl verstanden haben, jene Apostel, die Zeugen Deiner unergründlichen Liebe gewesen waren!

Die Verkündigung und das Beispiel des Meisters sind klar, eindeutig. Er hat seine Lehre durch Taten bekräftigt. Und doch muß ich oft daran denken, daß dieses Gebot auch nach zwanzig Jahrhunderten immer noch neu ist, weil sich sehr wenige Menschen um seine Verwirklichung bemüht haben. Die anderen - die meisten - haben es vorgezogen, es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ihr überspannter Egoismus flüstert ihnen zu: Warum so kompliziert? Ich habe an meinen eigenen Sorgen genug.

Eine solche Haltung darf es für einen Christen nicht geben. Wenn wir den Glauben an Ihn bekennen, wenn wir wirklich den Weg gehen wollen, den Christus uns während seines irdischen Lebens so deutlich vorgezeichnet hat, dann dürfen wir uns nicht damit zufriedengeben, von den anderen die Übel, die wir für uns nicht wünschen, fernzuhalten. Das mag schon viel sein, ist aber doch recht wenig, sobald wir begreifen, daß das Maß unserer Liebe von der Handlungsweise Jesu bestimmt sein muß. Und diese stellt Er uns vor Augen, nicht als ein weit entferntes Ziel oder als die abschließende Krönung eines lebenslangen Kampfes, sondern als den Ausgangspunkt; das Beispiel seiner Liebe ist - ich wiederhole es, damit du konkrete Vorsätze faßt - der Ausgangspunkt, denn unser Herr sieht in dieser Liebe das von Anfang an aufgerichtete Zeichen: Daran sollen alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid.

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