Freundschaft

Wenn es dir einmal schwerfällt, jemandem einen Gefallen zu tun, ihm einen Dienst zu erweisen, erinnere dich daran, daß dieser Mensch ein Kind Gottes ist und daß der Herr uns geboten hat, einander zu lieben.

Aber mehr noch: Begnüge dich nicht mit einer oberflächlichen Befolgung dieses Gebotes aus dem Evangelium; erfasse es jeden Tag tiefer! Zieh die Konsequenzen daraus - es ist gar nicht so schwer -, und richte in jedem Augenblick dein eigenes Verhalten nach den Forderungen des Herrn.

Das Leben in der heutigen Welt ist so hektisch, daß die christliche Nächstenliebe zu einer Art Ausnahmeerscheinung geworden ist, obwohl man Christus - zumindest verbal - weiterhin verkündet…

Ich gebe das zu. Aber - was tust du selbst, der du ja als katholischer Christ mit Ihm eins sein und seinen Fußstapfen folgen sollst? Hat Er uns doch geboten, seine Lehre überall zu verbreiten, bei allen Menschen - bei allen! - und zu allen Zeiten.

Immer ist es in der Geschichte so gewesen, daß Menschen sich zusammentun, um eine gemeinsame Aufgabe zu erfüllen und ein gemeinsames Ziel zu erreichen.

Sollte etwa den Männern und Frauen von heute das "einzige Ziel", das Heil der Seele, weniger wert sein?

Du hast den tiefsten Sinn der Freundschaft erfaßt, seitdem dir aufgegangen ist, daß du gleichsam der Hirt einer kleinen Herde bist. Jetzt möchtest du die, die du früher links hast liegen lassen, neu um dich sammeln und jedem einzelnen dienen.

Du darfst dich nicht bloß passiv verhalten. Zu einem echten Freund kannst du nur werden, wenn du deinen Freunden hilfst. Vor allem mit dem Beispiel deiner Lebensweise, dann auch mit deinem Rat und durch den Einfluß, der auf deiner absoluten Vertrauenswürdigkeit beruht.

Ganz unerwartet trafst du auf diesen Geist der Brüderlichkeit und Freundschaft, der dich jetzt begeistert.

Natürlich: denn davon hattest du immer voller Sehnsucht geträumt, ihn aber nie irgendwo verwirklicht gesehen. Und warum nicht? Weil die Menschen vergessen, daß sie Brüder Christi sind, Geschwister dieses liebenswerten Bruders aller Menschen, der sein Leben für alle, für jeden einzelnen von uns, vorbehaltlos hingegeben hat.

Es ist für dich ein großes Glück gewesen, wahren Lehrern und echten Freunden begegnet zu sein, die dich mit Hingebung in allem unterwiesen, was immer du auch hast wissen wollen. Neidlos ließen sie dich an ihrem Wissen, ihrer Bildung, ihren Erkenntnissen teilhaben, so daß du nie nötig hattest, all das auf mühsamen, verschlungenen Pfaden dir anzueignen. Sie haben dir Wege gezeigt, die dir jetzt wie selbstverständlich vorkommen, die zu finden sie aber einst harte Anstrengungen gekostet hatte… Jetzt ist es an dir, ebenso zu handeln: an diesem, an jenem - an allen!

Beherzige meinen Rat und handle danach: Diese Leute, denen du unsympathisch bist, werden ihre Meinung revidieren, sobald sie merken, daß du sie "wirklich" gerne hast. Alles hängt also von dir ab.

Gut zu sein, genügt nicht, es muß auch von außen zu spüren sein. Was hieltest du von einem Rosenstrauch, an dem nichts als Dornen zu sehen wären?

Um die Lauen zu erwärmen, ist es nötig, daß sie um sich das Feuer der Begeisterung verspüren.

Viele könnten uns zurufen: Anstatt über meine derzeitige Verfassung zu klagen, zeigt mir lieber den Weg, wie ich aus dem, was euch so sehr betrübt, herauskommen kann!

Die Verpflichtung zur Brüderlichkeit gegenüber allen Menschen verlangt, daß dein "Apostolat der kleinen Aufmerksamkeiten" von ihnen unbemerkt bleibt: Es gilt einfach, ihnen zu dienen, damit ihr Weg ihnen leichter gangbar erscheint.

Wie eng ist die Seele derer, die ihre "Beschwerdeliste" sorgfältig aufbewahren! Mit solchen bedauernswerten Menschen ist ein Zusammenleben kaum möglich.

Wahrhafte Nächstenliebe "omnia suffert" - "erträgt alles" und führt keine "Listen": weder über die "ständigen und notwendigen" Dienste, die sie tut, noch über die Kränkungen, die sie erfährt.

Du hältst dich an einen anspruchsvollen Lebensplan: Du stehst früh auf, hältst eine feste Zeit des Gebetes ein, empfängst oft die Sakramente, arbeitest oder studierst intensiv, bemühst dich um Genügsamkeit und um den Geist der Aszese… Und trotz allem: du spürst, daß dir noch etwas fehlt!

Nimm einmal in dein Gespräch mit Gott die folgende Überlegung hinein: Da die Heiligkeit - genauer: das Ringen um sie - nichts anderes als Fülle der Liebe ist, mußt du dich prüfen, wie es um deine Liebe zu Gott und - aus ihr entspringend - um deine Liebe zu den Mitmenschen bestellt ist. Vielleicht entdeckst du dann, tief verborgen in deiner Seele, ernste Fehler, die du bis jetzt noch nicht bekämpft hast. Du bist noch kein guter Sohn, kein guter Bruder, kein guter Freund, kein guter Kollege. Und da du "deine eigene Heiligkeit" auf falsche Weise suchst, bist du neidisch auf die anderen…

Du "opferst dich" in vielen "persönlichen" Kleinigkeiten, und so klebst du an deinem Ich, an deiner Person, und lebst im Grunde weder für Gott noch für die anderen, sondern für dich allein.

Du hältst dich für einen guten Freund, weil du kein böses Wort sprichst. - Das stimmt. Aber ich sehe leider kein freundschaftliches Werk, du gibst weder gutes Beispiel noch leistest du einen Dienst…

Solche Freunde sind schlechte Freunde.

Zuerst behandelst du jemanden schlecht… Gleich darauf, noch bevor der andere reagieren kann, verkündest du: "So, und nun allseits christliche Nächstenliebe!"

Fingest du doch mit dem Zweiten an… Dann würde es gar nicht zu dem Ersten kommen.

Säe kein Unkraut, wie jener, den seine eigene Mutter so charakterisierte: "Stellen Sie ihm Ihre Freunde nur vor; er wird schon dafür sorgen, daß Sie sich bald mit ihnen entzweien."

Die Art der Brüderlichkeit, die dein Freund an den Tag legt, scheint mir unchristlich. Er warnt dich: "Man hat mir diese und jene haarsträubende Geschichte über dich erzählt. Paß auf, denn anscheinend gibt es im Kreis deiner engsten Freunde jemanden, der dein Vertrauen nicht verdient…"

Diese Art scheint mir deshalb unchristlich, weil ich in einem solchen "Bruder" die Entschiedenheit vermisse, den Verleumder zum Schweigen zu bringen, und weil er nicht die Loyalität aufbringt, ihn beim Namen zu nennen.

Wenn er nicht genug Charakter hat, diese schlimmen Defekte seiner Persönlichkeit zu beseitigen, dann bringt dich ein solcher "Bruder" in die Gefahr, am Ende deines Lebens vereinsamt zu sein, mißtrauisch gegen jeden und lieblos gegen alle…

Da dir jeglicher Sinn für den Wert der Menschen in den Augen Gottes fehlt, siehst du in ihnen nur ihre mehr oder weniger bedeutende soziale Stellung. Weder denkst du an ihre Seele, noch bist du bereit, ihnen zu dienen. Deshalb geht dir jede Großherzigkeit ab. Du magst viel beten, aber deine Frömmigkeit ist schal, und du lebst weit von Gott entfernt…

Der Meister hat es sehr deutlich gesagt: "Hinweg von mir in das ewige Feuer… Denn ich war hungrig… Ich war durstig… Ich war im Gefängnis…, und ihr habt euch nicht um mich gekümmert."

Gott vollkommen zu lieben und sich zugleich von Egoismus oder Gleichgültigkeit im Umgang mit dem Nächsten beherrschen zu lassen - das ist unvereinbar.

Die echte Freundschaft erfordert nicht zuletzt das herzliche Bemühen darum, die Ansichten unserer Freunde zu verstehen, auch wenn wir sie nicht teilen oder nicht übernehmen können.

Laß niemals zu, daß auf dem Pfad der Freundschaft das Unkraut wuchert: Sei treu und zuverlässig.

Ein fester Vorsatz in bezug auf Freundschaft: Ich will mich in meinem Denken, in meinen Worten und in meinen Handlungen gegenüber meinem Nächsten - wer immer er sein mag - nicht mehr wie bisher verhalten: Ich will tätige Nächstenliebe üben und der Gleichgültigkeit in meinem Herzen keinen Raum mehr geben.

Deine Nächstenliebe muß auf die Bedürfnisse deiner Mitmenschen eingehen und sich ihnen anpassen - nicht deinen eigenen Bedürfnissen.

Wir sind Kinder Gottes! Diese grundlegende Wahrheit verwandelt uns in Menschen, die weit mehr vermögen, als nur sich gegenseitig zu ertragen. Höre das Wort des Herrn: "Vos autem dixi amicos!" - Ich aber habe euch Freunde genannt - ja, wir sind seine Freunde. Wie Er an uns getan, so geben wir freudig das Leben füreinander, in der Stunde der Not wie im gewöhnlichen Alltag.

Wie kann man erwarten, daß Andersgläubige zur Heiligen Kirche heimfinden, wenn sie den lieblosen gegenseitigen Umgang unter denen sehen, die in der Nachfolge Christi zu leben meinen?

Die Anziehungskraft, die von deiner sympathischen Umgänglichkeit ausgeht, muß an Weite und Tiefe gewinnen. Sonst wird deine apostolische Wirksamkeit in sterilen, geschlossenen Kreisen ersticken.

Durch deine Freundschaft und mit deiner "Beschlagenheit" in der Lehre der Kirche - besser ausgedrückt: durch die Botschaft und die Liebe Christi - wirst du viele Nichtkatholiken für eine ernsthafte Mitarbeit gewinnen können, zum Wohl aller.

Ich schrieb mir die begeisterte Bemerkung eines Arbeiters auf, der an einem von dir angeregten Treffen teilgenommen hatte: "Noch niemals habe ich über Charakter, Anstand, Freundschaft und Großzügigkeit so sprechen hören, wie hier…" - Und er sagte dann, richtig erstaunt: "Gegenüber dem Materialismus von rechts und von links… ist das hier die wahre Revolution!"

Jede Seele vermag die Brüderlichkeit zu erfassen, die Christus uns als das Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens enthüllt hat. Setzen wir alles daran, daß diese Lehre nicht an Kraft verliert!

Gelegentlich suchst du dich selbst zu rechtfertigen und versicherst, du seist so zerstreut und vergeßlich. Andere Male sagst du, du seist von deinem Charakter her eher trocken und reserviert. Deshalb, so fügtest du hinzu, kennst du nicht einmal die Menschen in deiner Nähe richtig.

Hör zu: Du wirst dich doch mit solchen Ausreden nicht zufriedengeben?

Ich habe dir geraten, in all den kleinen Begebenheiten deines normalen Tagesablaufs ein Gespür für das Übernatürliche zu entwickeln. Und ich habe sofort noch hinzugefügt: Der Umgang mit deinen Mitmenschen bietet dir im Laufe des Tages sehr viele Gelegenheiten dazu.

Die Nächstenliebe glaubwürdig leben schließt ein, die Denkweise der anderen zu respektieren und sich ehrlich über ihren persönlichen Weg zu Gott zu freuen. Man kann nicht verlangen, daß alle denken wie du oder sich mit dir verbünden.

Als Erläuterung dazu sagte ich dir: Diese verschiedenen Wege verlaufen parallel. Jeder erreicht Gott, indem er seinen Weg geht. Aber Vergleiche oder Vermutungen darüber, welcher Weg der bessere ist, sind müßig. Das einzig Wichtige ist, daß wir alle das Ziel erreichen.

Dieser Mensch habe leider so viele Fehler! Mag sein… Aber abgesehen davon, daß du die Vollkommenheit nur im Himmel findest - auch du schleppst deine Fehler mit dir, und trotzdem ertragen dich die anderen; sie schätzen dich sogar, weil sie dich mit der Liebe lieben, die Christus seinen Jüngern entgegenbrachte. Und auch bei denen war die Last der Armseligkeiten nicht gerade klein.

Lerne daraus!

Du klagst darüber, daß er dich nicht versteht… Und doch bin ich sicher, daß er alles daran setzt, um dich zu verstehen. Du aber - wann wirst du dich auch nur ein wenig bemühen, ihn zu verstehen?

Ja, ich gebe es zu: Dieser Mensch hat schlecht gehandelt; sein Verhalten war unwürdig und verwerflich, charakterlos.

Du meintest: Er verdient nur Verachtung!

Nochmals: Ich verstehe dich - aber deiner Schlußfolgerung stimme ich nicht zu. Auch das Leben dieses entgleisten Menschen ist ein geheiligtes Leben. Auch für ihn ist Christus gestorben, um ihn zu erlösen! Wenn Christus ihn nicht verachtete - wie kannst du es dann tun?

Wenn deine Freundschaft verkommt zur Komplizenschaft mit den Verfehlungen der "Freunde", dann verdient eine solche elende Kumpanei nicht die geringste Wertschätzung mehr.

Es ist wahr - das an sich schon ziemlich beengte und unsichere Leben kann manchmal recht schwierig werden. - Aber das wird dir zu einer mehr übernatürlichen Sicht verhelfen, die dich in allem die Hand Gottes erkennen läßt. So wirst du deiner Umgebung mit mehr Güte und Verständnis begegnen.

Das Ausmaß der Autorität und die Möglichkeit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, sind einander proportional: der einfache Richter wird den überführten und geständigen Angeklagten - vielleicht unter Berücksichtigung mildernder Umstände - verurteilen müssen. Ein Staatsoberhaupt kann bei bestimmten Anlässen eine Amnestie erlassen oder einen Verurteilten begnadigen. Gott aber verzeiht der reuigen Seele immer.

"Mit eurer Hilfe habe ich erkannt, daß Gott all meine Torheiten und Beleidigungen vergißt und mich mit der Liebe eines Vaters annimmt." So schrieb ein verlorener Sohn aus dem 20. Jahrhundert, als er reuevoll ins väterliche Haus heimkehrte.

Es hat dich viel gekostet, all deine kleinen Sorgen und persönlichen Anliegen, die an sich eher banal und auch gar nicht so zahlreich waren, aber doch tief in deiner Seele verwurzelt, nach und nach abzuwerfen und zu vergessen. - Dafür hast du die schöne Sicherheit eingetauscht, daß deine Sorge um die Brüder, und nur um sie, nunmehr die erste Stelle unter deinen Anliegen einzunehmen hat. Denn du hast gelernt, in deinem Nächsten Jesus Christus zu erkennen.

"Das Hundertfache!"… Wie mächtig kam dir vor wenigen Tagen diese Verheißung des Herrn in den Sinn!

Dieses "Hundertfache" wird dir zuteil - das versichere ich dir - in der Brüderlichkeit, die das Leben mit deinen Gefährten im Apostolat trägt und prägt.

Wie viele Ängste und Gefahren kann die echte Liebe unter den Brüdern, unter den Schwestern vertreiben! Man spricht nicht über sie - das wäre wie Profanierung -, aber sie leuchtet aus jeder Kleinigkeit…

Suche jeden Tag voller Vertrauen Zuflucht bei der Gottesmutter! Das wird deine Seele - dein ganzes Leben - stärken. - Maria wird dich an den Schätzen, die sie in ihrem Herzen birgt, teilhaben lassen, denn "man hat es noch niemals gehört, daß jemand, der zu ihr seine Zuflucht nahm, von ihr verlassen worden sei."

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