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Balsam für die Augen

Die Sünde der Pharisäer bestand nicht darin, daß sie in Christus nicht Gott sahen, sondern daß sie sich willentlich in sich verschlossen und nicht duldeten, daß Jesus, das Licht selbst, ihnen die Augen öffnete (Vgl. Joh 9,39-41). Dieses Sichverschließen hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Beziehungen zu den Mitmenschen. Der Pharisäer, der meint, selbst Licht zu sein, und nicht zuläßt, daß Gott ihm die Augen öffnet, wird dem Nächsten voller Hochmut und Ungerechtigkeit begegnen: Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie die Räuber, Betrüger, Ehebrecher, oder wie der Zöllner da (Lk 18,11) - das ist sein Gebet. Und der Blindgeborene, der bei der Wahrheit bleiben will und von einer wunderbaren Heilung spricht, muß sich sagen lassen: Du bist ganz in Sünden geboren und willst uns beIehren? Und sie stießen ihn aus (Joh 9,34).

Unter jenen, die Christus nicht kennen, gibt es viele gute Menschen, die sich aus einer natürlichen Haltung heraus feinfühlig verhalten: Sie sind aufrichtig, herzlich, aufmerksam. Wenn sie und wir uns nicht dagegen stemmen, daß Christus die Blindheit heilt, die unsere Augen noch trübt, wenn wir es zulassen, daß der Herr diese Augen mit einem Teig bestreicht, der in seinen Händen zu heilender Salbe wird, dann werden wir in einem neuen Licht - mit dem Licht des Glaubens - die irdischen Dinge wahrnehmen und die ewigen erahnen: wir werden einen lauteren Blick erwerben.

Dazu ist der Christ berufen, zur Fülle der Liebe. Diese Liebe ist langmütig, gütig, nicht eifersüchtig. Sie prahlt nicht, sie überhebt sich nicht, sie handelt nicht unschicklich, sie sucht nicht das Ihre, kennt keine Erbitterung, trägt das Böse nicht nach. Am Unrecht hat sie kein Gefallen, mit der Wahrheit freut sie sich. Alles erträgt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, alles duldet sie (1 Kor 13,4-7).

Die Liebe Christi ist nicht bloß ein Gefühl des Wohlwollens gegenüber dem Nächsten, sie ist nicht lediglich eine philanthropische Laune. Die Liebe, die Gott der Seele eingießt, verwandelt Verstand und Willen von innen her, sie gibt der Freundschaft und der Freude an guten Werken eine übernatürliche Grundlage.

Führt euch die Heilung des Gelähmten vor Augen, von der die Apostelgeschichte berichtet. Petrus und Johannes steigen zum Tempel hinauf und stoßen beim Vorübergehen auf einen Mann, der am Tor des Tempels sitzt. Er ist lahm von Geburt. Alles erinnert an die Heilung des Blindgeborenen. Doch jetzt bringen die Jünger dieses Schicksal nicht mehr in Zusammenhang mit den persönlichen Sünden des Kranken oder mit den Verfehlungen seiner Eltern. Sie sagen zu ihm: Im Namen Jesu Christi von Nazareth geh umher (Apg 3,6). Früher waren sie voll Unverstand, jetzt sind sie voll Erbarmen, früher urteilten sie voreilig, jetzt heilen sie auf wunderbare Weise im Namen des Herrn. Seht, wieder ist es Christus, der vorübergeht! Christus geht immer noch vorüber auf den Straßen der Welt, in der Gestalt seiner Jünger, in der Gestalt der Christen. Und ich bitte Ihn aus ganzem Herzen, Er möge dicht an der Seele so mancher vorübergehen, die mich jetzt hören.

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